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„Am Anfang der Entwicklung der Menschenrechte stehen Mord und Folter, Sklaverei und Knechtschaft, also die noch nicht begrenzten Möglichkeiten, Menschen zu erniedrigen und zu unterdrücken,“ schreibt Karl-Peter Fritzsche in einem Buch über Menschenrechte.
Aufgrund dieser leidvollen Erfahrungen haben Menschen über die Jahrtausende gelernt, sich mithilfe bestimmter Rechte vor dem Staat und auch voreinander zu schützen. Die Geschichte der Menschenrechte lässt sich allerdings nicht an einem bestimmten Zeitpunkt, konkreten Ort oder bedeutenden historischen Ereignis festmachen, von dem aus ein gradliniger Weg zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 führt, dem Tag, an dem alljährlich auch am Ratsgymnasium der Tag der Menschenrechte gefeiert wird. Menschenrechte haben sehr unterschiedliche Wurzeln und Vorläufer und sind historisch gewachsen. Ein Blick in ausgewählte Bestände unserer historischen Schulbibliothek soll diesen Weg veranschaulichen.

I Wurzeln
Die Wurzeln der Menschenrechte – die folgende Darstellung konzentriert sich auf die westliche Welt – reichen in die griechische Antike des 5. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung zurück. Damals haben Philosophen den Menschen erstmals als autonom handelndes Individuum begriffen, der in einer Polis wie Athen bestimmte Rechte und Pflichten besitze. Bürgerechte wie die Teilnahme an der Politik blieben allerdings den männlichen Bürgern vorbehalten; Frauen, Fremde und Sklaven waren davon ausgeschlossen, die Versklavung fremder Völker üblich. Aristoteles beispielswiese rechtfertigte dies damit, dass in einem Staat „das von Natur Herrschende sich mit dem von Natur Beherrschten des Schutzes wegen verbinden [muss]“, weil dies für Herrscher und Sklaven aus fremden Völkern („Barbaren“) gleichermaßen nützlich sei.
Wenige Jahrhunderte später entwickelte die Philosophie der Stoa (ca. 300 v. Chr. – 200 n. Chr.) die Idee, dass alle Menschen insofern gleich seien, als sie alle an der göttlichen Vernunft teilhaben, die ihnen ein tugendhaftes Leben ermögliche. Einen Anspruch auf gleiche Rechte etwa für die Sklaven leitete sich daraus allerdings noch nicht ab. Erst der seit jeher im Lateinunterricht gelesene Cicero (Abb. 1) begründete die besondere Würde des Menschen als vernunftbegabtes und damit von anderen Tieren verschiedenes Lebewesen, das von Natur aus bestimmte Rechte habe. Diese Annahme bedeutete zugleich, „dass auch gegenüber den Niedriggestellten [also den Sklaven] Gerechtigkeit gewahrt werden muss“.
Solche Naturrechtsgedanken fanden nicht nur Eingang in die Rechtspraxis des antiken Rom; auch das Juden- bzw. Christentum konnte dies mit der eigenen Vorstellung von der Gleichheit der Menschen in der Schöpfungsgeschichte der Bibel verbinden. Indem Gott am 6. Tag den Menschen als sein Ebenbild erschaffen habe (Abb. 2), gewinne er eine Sonderstellung und besondere Würde, die seine Herrschaft über die Tiere und die Natur rechtfertige. Daher könne der Mensch auch, wie Mose auf dem Berg Sinai die Zehn Gebote, Gesetze direkt von Gott empfangen (Abb. 3). Das Neue Testament entwickelte am Beispiel des Lebens und Leidens Jesu die Gottes- und Nächstenliebe und half damit bei der Begründung der Armenfürsorge im Sinne der Menschenwürde. Die Bedeutung des Christentums in den nächsten fast zweitausend Jahren führte auch dazu, dass sich jeder christliche König des Mittelalters als Herrscher von Gottes Gnaden verstand.
Ungeachtet dieses starken Bezugs auf das Christentum blieben im Mittelalter Freiheit und Gleichheit der Menschen oft mehr Anspruch und Rhetorik als historische Realität, was verschiedentlich im Geschichtsunterricht thematisiert wird: Die streng hierarchisch gegliederte, auf rechtliche Ungleichheit beruhende Ständegesellschaft mit Klerus, Adel und Dritten Stand der Bürger und Bauern prägte das Leben der Menschen bis zur Französischen Revolution im Jahre 1789. Man hatte als Mitglied eines bestimmten Standes Rechte, Pflichten oder Privilegien – Freiheitsrechte als Individuum besaß man hingegen nicht. Im Namen des Glaubens wurden Kreuzzüge gegen den Islam geführt oder Abweichler von der katholischen Kirche als Häretiker exkommuniziert, verfolgt oder sogar verbrannt (Abb. 4).
Kurzum: Ungeachtet dieser Wurzeln gab es weltweit anerkannte Menschenrechte daher weder in der Antike noch im Mittelalter.

II Vorläufer
Die eigentlichen Vorläufer der heutigen Menschenrechte liegen denn auch nicht in der griechischen und römischen Antike oder im Christentum, sondern entstanden seit dem 15. und 16. Jahrhundert zunächst in der Renaissance, die sich als Wiedergeburt der Antike verstand und deren Ideen weiterentwickelte. Die Humanisten betonten die Menschenwürde und dass sich der Mensch durch umfassende Geistesbildung, vorwiegend an klassischen Sprachen, entfalten könne. Der Ausbau des heutigen Ratsgymnasiums zu einem humanistischen Gymnasium seit 1815 beruht etwa auf dieser Tradition.
Zweitens spielt die u.a. im Religionsunterricht thematisierte Reformation durch Martin Luther eine mindestens indirekte Rolle als Vorläufer moderner Menschenrechte. In der historischen Aula des Ratsgymnasiums zeigt beispielsweise ein Gemälde aus dem Zyklus des deutschen Historien- und Portraitmalers Ernst Hildebrand Luther auf dem Reichstag zu Worms 1521 im Mönchsgewand und mit der Bibel in der Hand, wie er selbstbewusst, fast triumphierend aufrecht vor Kaiser Karl V. und hochrangigen Geistlichen steht, sich weigert, seine Schriften zu widerrufen und damit die neuzeitliche Glaubens- und Gewissensfreiheit begründet. Auch das Gründungsdatum unserer Schule im Jahr 1558 geht zurück auf die Reformation in Bielefeld und die Forderung Luthers an die deutschen Bürgermeister und Ratsherren, christliche Schulen zu gründen (Abb. 5).
Der dritte und entscheidende Schritt der Menschenrechtsentwicklung vollzieht sich allerdings erst im Zeitalter der Aufklärung seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Immanuel Kant definierte die Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ und forderte den Mut, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (Abb. 6). Dieser im Geschichts- und Philosophieunterricht thematisierten Geistesströmung verdankt das Ratsgymnasium im Übrigen die Gründung ihrer Bibliothek im Jahr 1753. Denn, in den Worten des damaligen Rektors Gotthilf August Hoffmann, „[o]hne Bücher, weiß endlich ein ieder, kann man unmöglich fortkommen“, weshalb „deren Kentnis und fleissiger Gebrauch einen begierigen Jüngling in wenig Zeit weiter bringt, als der mühsame Unterricht des Lehrmeisters“.
Laut Aufklärungsphilosophie sollten nicht Herkunft und Stand, König und Kirche das Leben und die staatliche Ordnung bestimmen, sondern die Kraft der Vernunft und die Fähigkeiten der von Natur aus freien und gleichen Menschen, deren Rechte unveräußerlich seien.
Wenngleich auch hier einschränkend erwähnt werden muss, dass unausgesprochen diese Rechte weiterhin ausschließlich für Männer galten, sei es den Aufklärern zufolge Aufgabe des Staates, diese natürlichen Rechte wie Freiheit, persönliche Unversehrtheit und das Eigentum zu schützen. Jean-Jacques Rousseau etwa lehnte die Sklaverei ab, weil „kein Mensch eine natürliche Gewalt über seinesgleichen hat“ (Abb. 7). Vor diesem Hintergrund begründete er seinen Gesellschaftsvertrag als freien Zusammenschluss der Individuen, der die grundlegenden Rechte des Menschen bewahren soll. Mit der Idee der Volkssouveränität, also der Vorstellung, nicht der Monarch sei der Souverän eines Staates, sondern das Volk, war ein weiterer Schritt zum modernen Verfassungsstaat getan, der nicht mehr durch Gott legitimiert oder von absolutistischen Herrschern regiert wird.
Um nämlich eine solche Machtkonzentration und einen Machtmissbrauch generell zu verhindern, führte Charles de Montesquieu im Anschluss an John Locke das Prinzip der Gewaltenteilung ein. Danach dürften in einem Staat die gesetzgebende (Legislative), ausführende (Exekutive) und richterliche Gewalt (Judikative) nicht in den Händen einer einzelnen Person oder Institution liegen. (Abb. 8)
Die Ideen der Volkssouveränität und Gewaltenteilung finden sich seither in vielen demokratische Verfassungen weltweit und garantieren auch in der Bundesrepublik die im Grundgesetz verankerten Grundrechte. Ende des 18. Jahrhunderts war somit der Boden für die ersten modernen Verfassungen und Menschenrechtserklärungen in Amerika und Frankreich bereitet.
…Fortsetzung folgt…

Benjamin Magofsky